Rezensionen - Schweidlenka, Roman R. und Schulthess, Peter

Edition Psychotherapie und Zeitgeschichte

Moderne Erziehung zur Hörigkeit?

Die Tradierung strukturell-faschistischer Phänomene in der evolutionären Psychologieentwicklung und auf dem spirituellen Psychomarkt.
Ein Beitrag zur zeitgeschichtlichen Introjektforschung in drei Bänden.


Rezensionen

Es sind zwei Rezensionen nennenswert. Die eine stammt von Dr. Roman Schweidlenka, Leiter des Infodienstes des Landesjugendreferats der steiermärkischen Landesregierung
die andere von Peter Schulthess, Präsident der Schweizer Charta für Psychotherapie und der EAGT (European Association for Gestalttherapy).

 

Karin Daecke:
Moderne Erziehung zur Hörigkeit?
Die Tradierung strukturell-faschistischer Phänomene in der evolutionären Psychologieentwicklung und auf dem spirituellen Psychomarkt.

Ein Beitrag zur zeitgeschichtlichen Introjektforschung in 3 Bänden (auch einzeln erhältlich). 1840 Seiten.

  • Gesamtausgabe: Edition Psychotherapie und Zeitgeschichte, Neuendettelsau 2006, 2007,
    ISBN 978-3-981319-3-2, € 125,00
  • Band 1: Der Tradierungsgrundbestand und seine Ausgestaltung in den wichtigsten Pilotprojekten der New-Age-Bewegung und auf dem Psychomarkt. 445 Seiten.
    ISBN 13: 978-3-9811319-0-1, € 38.-
  • Band 2: Die evolutionäre Psychologieentwicklung nach dem zweiten Weltkrieg und ihre Bedeutung für die New-Age- und New-Era-Bewegung. 645 Seiten.
    ISBN 13: 978-3-9811319-1-8, € 45.-
  • Band 3: Strukturell-phänomenlogische Grundlagen einer ideologiekritischen Psycho- und Soziotherapieforschung im Mehrgenerationenfeld. Methoden und Ergebnisse. 750 Seiten.
    ISBN 13: 978-3-9811319-2-5, € 48.-

E-Mail-Bestelladresse: tradierungsstudie@verlag-epz.de

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Rezension 1: Dr. Roman Schweidlenka

Esoterik hat sich etabliert, die warnenden Töne, die mit ihrem Siegeszug durch unsere Gesellschaft verbunden waren, sind weit gehend verstummt. Die diesbezügliche kritische Literatur ist alles andere als brandaktuell, oft bereits vergriffen. Die Probleme, die manche Angebote auf dem Esoterik- und Psychomarkt immer noch bereiten, sind aber nicht aus der Welt; Probleme, die den einzelnen Konsumenten, aber auch die demokratische Gesellschaft betreffen.

Es ist angesichts dieser Tatsache mehr als erfreulich, dass endlich wieder ein umfassendes kritisches wissenschaftliches Werk zum Thema erschienen ist. Genauer formuliert: Die umfassendste kritische Studie zum Psychomarkt und zur modernen abendländischen Esoterik, die es - soweit es mir bekannt ist - im deutschen Sprachraum gibt!

Die voluminösen Bände gliedern sich:
Band 1: Der Tradierungsgrundbestand und seine Ausgestaltung in den wichtigsten Pilotprojekten der New-Age-Bewegung und auf dem Psychomarkt
Band 2: Die evolutionäre Psychologieentwicklung nach dem zweiten Weltkrieg und ihre Bedeutung für die New-Age- und New-Era-Bewegung
Band 3: Ein gestalttherapeutischer Beitrag für eine ideologiekritische Psycho- und Soziotherapieforschung im Mehrgenerationenfeld. Methoden und Ergebnisse.

Nun ist das Werk in seiner Gesamtheit bedeutend. Für mich am Wichtigsten ist die kritische Aufarbeitung von Methoden und Trends in Psychologie und Psychotherapie, wo ja vor Jahren bereits der große Rechtsruck und Verdummungsdruck stattgefunden hat. Daeckes Plädoyer für eine Erneuerung der Psychoanalyse und -therapie unter ideologie- und gesellschaftskritischen Aspekten - und das betrifft besonders die esoterischen bzw. spirituellen Spielarten, die unser Eso-Supermarkt anbietet - kann nicht genug betont und befürwortet werden. Denn die "Psychologie der Verführung", mit der der NS punktete, feiert bei etlichen Zweigen vordergründig apolitischer Eso-Therapien fröhliche Auferstehung. Die Studie, schreibt Daecke, "erschließt hierfür die Psycho- und Soziodynamiken des Totalitären, ihre narzisstischen Verführungs-, Vereinnahmungs- und Verwertungsstrukturen und die darin eingehende Instrumentalisierung verschiedener Abwehrformen und Entwicklungsstörungen".

Natürlich keine leichte Kost, wie es wissenschaftliche Werke nun einmal so an sich haben. Aber wer sich intensiv mit der Thematik befassen möchte, bereit ist, auch die dafür nötige Zeit aufzubringen, dem seien diese drei Bände, die zugleich zu den wichtigsten zeitgenössischen antifaschistischen Studien zählen, wärmstens empfohlen. Es wäre erfreulich, wenn sich StudentInnen davon angeregt fühlen, mit eigenständigen kritischen Forschungsarbeiten den Eso- und Spirittherapienboom unter die Lupe zu nehmen.

Daecke ist Soziologin, Gestalt- und Bewegungstherapeutin und arbeitet seit langen Jahren mit Geschädigten aus so genannten Sekten (u.a. Scientology) und aus dem Esoterik-Supermarkt sowie mit Familien mit traumatischen NS-Ideologienachwirkungen.

Dr. Roman Schweidlenka

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Rezension 2: Peter Schulthess

Psychologische Theorien entstehen und wandeln sich nie isoliert von den gesellschaftlichen Verhältnissen der jeweiligen Zeit. Das gilt auch für die sozialen Bewegungen, die sich auf jeweilige psychologische Theorien beziehen. Und es gilt für Psychotherapietheorien der jeweiligen Zeit. Eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit den Entwicklungen auf dem Psychomarkt der Nachkriegszeit tut dringend not. Er bringt eine erweiterte Perspektive auf die Differenzierung der Psychotherapie in verschiedene Richtungen und auf die Entwicklungen innerhalb der einzelnen Richtungen. Ansätze zu Aufarbeitungen der psychologischen Voraussetzungen zum Faschismus und seiner geistesgeschichtlichen Quellen gibt es wohl.
Diese mit psychologischen Theorien aus der irrationalistischen Wissenschaftsentwicklung, mit neuen Psychotherapieformen und Entwicklungen auf dem Psychomarkt isb. auf dem spirituellen Psychomarkt in Verbindung zu bringen, hat noch niemand in so gründlicher Form gemacht, wie das die Autorin tut.
Als politisch kritische Soziologin und Psychotherapeutin mit Ausbildungen in Gestalttherapie und Integrativer Therapie hat sie dazu einen reichen fachlichen Hintergrund. Die Autorin arbeitet seit 13 Jahren mit Geschädigten aus Sekten, aus der New-Age- und der New-Era-Bewegung sowie aus Familien mit NS-Ideologienachwirkungen. Hier hat sie auch ihr besonderes Forschungsinteresse entwickelt.
Ist die evolutionäre Psychologie (die den Menschen zu einem besser entwickelten Wesen fördern will, einen "besseren Menschen" zum Therapieziel hat) mit ihren Verbindungen zu esoterischer Spiritualität eine moderne Form der Erziehung zur Hörigkeit?

Wie eignen sich die Theorien der verschiedenen Schulen, um Selbstwerdung, Autonomie und Selbstverantwortung (für sich selbst, aber auch für die soziale ökologische und politische Umwelt) zu fördern? Wie sehr sind sie in Gefahr, diese ursprünglich in ihrer Theorie enthaltenen emanzipativen Kernkonzepte durch die unkritische Übernahme von (meist auch noch schlecht rezipierten) Konzepten aus einer esoterischen, fundamentalistischen oder multikulturellen Spiritualiät zu unterlaufen und darüber mitzuwirken, eine moderne Erziehung zur Hörigkeit zu fördern?
Solche Fragen sind wichtig, wichtig für die Gesellschaft, für die Politikwissenschaft, wichtig aber auch für Lehrende und Praktizierende der Psychotherapie. Besonders wichtig sind sie, folgt man den Forschungen der Autorin, für Psychotherapierichtungen, die aus der humanistischen Psychologie heraus gewachsen sind, also auch für die Gestalttherapie und auch für die Integrative Therapie.
Die Autorin arbeitet sehr gründlich und systematisch. Sie beginnt mit Erörterungen zum Gesellschaftsbezug von Psychologie, Psychotherapie und zu ihrem politischen Stellenwert und Standort in der Gesellschaft. Dann folgt die Beschreibung von Strukturen, die irrationalistische und rationalistische Inhalte im psychologischen Wissenschaftsbereich weitergeben und die evolutionäre Psychologie geprägt haben. Eine Darstellung der zeitgeschichtlich zugrunde liegenden Grundkonzepte der evolutionär-programmatischen Psychologie und Psychagogik wird gegeben: Manichäismus und Theosophie, gefolgt von Ariosophie, neugermanischem Ordenskult und Menschenbild im Nationalsozialismus. Steiners Anthroposophie wird als Wegbereiter der "sechsten arischen Wurzelrassenbewegung" und ihres "spirituellen Kapitalismus" kritisch geschildert. Eine Beschreibung von Baileys Theosophie und ihrer Weltdienerschaft und die Entwicklung entsprechender psychagogischer Tradierungs-und Expansionsstrukturen im europäischen Wassermann-Lichtarbeiternetz leitet über zur Schilderung des gegenwartsgeschichtlichen Glaubensfundus in den wichtigsten Initial- und Expansionsprojekten des europäischen New-Age-Psychomarktes: Transzendentale Meditation, Brahma Kumaris Spiritual World University, das neoschamanische Medizinrad Netzwerk, Baghwans Mysterienschule und Ashram, die psychologische Struktur der solaren Führerschaft im Gralsmodus des theosophischen Guruismus. Eine Zusammenfassung über die Erkenntnisse all dieser Darlegungen über den Grundbestandsfundus erfolgt unter mehreren Perspektiven und schliesst den Band 1 ab.
Im zweiten Band vertieft die Autorin die Schilderung der evolutionären Psychologieentwicklung, in "Überwindung" des emanzipativen Ansatzes. Spannend für GestalttherapeutInnen und Integrative TherapeutInnen ist die Schilderung der Vereinnehmbarkeit der humanistischen Psychologie mit ihrem Veränderungsanspruch durch die transpersonale Psychologie. Maslow hat die Humanistische Psychologie zu einer transhumanistischen und dann zur transzendentalen Psychologie weiterentwickelt. Entsprechend hat Esalen unter seiner Führung eine Veränderung erfahren vom Ashram bzw. Förderzentrum westlich-östlicher Spiritualitätsentwicklung und humanistischer Psychologie hin zum Zentrum für transpersonale Psychologie. Dies im zeitgeschichtlichen Umfeld der McCarthy Ära, in der nicht mehr freie, selbständige und kritisch denkende Menschen gefragt waren mit der Fähigkeit zu einer mit Zivilcourage vertretenen eigenen Meinungsäusserung und politischen Einflussnahme, sondern führbare, sich unterordnende, auf die Führung vertrauende und sich in die grössere vorgegebene gesellschaftliche Ordnung einpassende Menschen. In dieser Zeit trennte sich Fritz Perls u.a. auch wegen dieses fachlichen wie politischen Konfliktes mit Maslow von Esalen und zog nach Lake Cowichan, um einen Gestaltkibbuz zu gründen. Dieser war mit seinen zu einer selbstbestimmten Lehr-, Lern- und Lebensgemeinschaft bereiten Mitgliedern das Gegenmodell zur Esalenentwicklung. Die Autorin zeigt, wie sich Esalen damals für das von faschistischen Einflüssen geprägte "Arica-Projekt" öffnete, während vor Ort Grof und Capra die transpersonale Psychotherapieentwicklung weiter führten.
Am Beispiel von Rütte wird die Entwicklung von Graf Dürckheims Initiatischer Therapie als deutscher Lehrweg ins transpersonale Bewusstsein geschildert, mit einem "Stufengang der Menschwerdung". Dürckheim war identifiziert mit dem Naziregime und der theosophischen Spiritualität, orientiert am vom Parzifalmythos geprägten Grals-Mysterium. Er orientierte sich an der Grazer und der Leipziger Gestaltpsychologie, deren Vertreter deutschnational dachten und einen irrationalistischen Ganzheitsbegriff verwendeten, der in der Nähe der arischen Ideologie stand.
In einem weiteren Kapitel wird Hellingers Reinstallierung von Autorität und Sippenordnung als "Wegführung" aus Leid, Krankheit und Tod kritisch geschildert, dann auch Ken Wilbers "legitime Autorität" und seine Vorstellung von individueller und kollektiver "transpersonaler" Reifung, die er an der "geschlossenen Gestalt" einer absoluten Geschichtsentwicklung festmacht.
Im letzten Teil dieses 2. Bandes wird die vom Scientology Imperium ins Leben gerufene New-Era Bewegung dargestellt und der Beitrag des Psychiatriekritikers Thomas Sasz als deren Wegbereiter in akademischen und gesellschaftskritischen Kontexten untersucht.
In Band 3 wird ein schulenübergreifender und interdisziplinärer Ansatz zur Erforschung narzisstischer und strukturell-faschistischer Tradierungsphänomene im evolutionär-spirituellen und -psychologischen Wegelabyrinth gesucht und erläutert. Den frühen gestalttherapeutischen Grundlagenkonzepten, wie sie von Beginn weg, d. h. von Fritz Perls bereits in "Ego Hunger and Aggression" und später von Perls, Hefferline und Goodman beschrieben wurden, attestiert die Autorin - neben den zeitgeschichtlichen psychoanalytischen Konzepten - darin eine hohe Bedeutung, "da Perls' Gestalt- und feldstruktureller Holismusbezug dezidiert nicht evolutionär-wissenschaftlich definiert ist, konzeptuell keine Konfluenz mit irgendwelchen Evolutionsprogrammatiken vorsieht bzw. keinem Evolutionsglauben mit intentionalem Selbstentwicklungs- und Gestaltordnungsbezug anhängt und zudem stets relativ und situativ feldbezogen bleibt und gesellschaftbezogen reflektiert wird." (Bd. 3, S. 58)
Interessant dazu ist aus Schweizer und insbesondere Zürcher Sicht auch die Auseinandersetzung und Analyse des VPM, der gerade diese Konzepte angriff, wie sich manche von uns erinnern werden.

Karin Daecke legt ein äusserst umfangreiches, minutiös recherchiertes Werk vor. Kaum jemand wird die 3 Bände in einem Zuge durchlesen wollen oder können, zu vielfältig und vielschichtig ist das Werk. Je nach eigenem Interessenhintergrund wird man/frau sich auf die einen oder anderen Kapitel konzentrieren. Die Bücher sind so geschrieben, dass man das kann. Zusammenfassungen und Überleitungen erlauben, den Faden zu halten, auch wenn man vieles weglässt und selektiv liest. Am Beginn des Buches sind gar Leseempfehlungen an unterschiedliche Zielgruppen der Studie angegeben. GestalttherapeutInnen und Integrativen TherapeutInnen empfehle ich in Übereinstimmung mit der Autorin ganz besonders im 2. Band das Kapitel III, hier isb. die Auseinandersetzung mit der humanistischen Psychologie und Esalen. Ausserdem in Band 3 im Kapitel V die Abschnitte 1c und 2b, in denen sich eine lesenswerte Analyse zur wissenschaftstheoretischen Positionierung der Gestalttherapie findet. Und natürlich auch das Schusskapitel VI 2d.
Die 3 Bücher kann man auch als sehr umfangreiche Materialsammlung sehen. Sie sind eine reiche Quelle mit umfangreichen Literaturverweisen und Belegen. Man wird dieses Buch bei unterschiedlichen Gelegenheiten wieder zur Hand nehmen wollen, etwa wenn Neuerer der Gestalttherapie sich auf Ken Wilber beziehen, auf initiatische Therapiekonzepte (Dürckheim, Loomans, Derbulowski etc.) und Rituale, auf Maslows Bedürfnispyramide, auf Grof, Capra, Hellinger, auf die für die Expansion der Transpersonalen Psychologie in Europa so wichtige neoschamanische und neotantrische Medizinradbewegung usw.. Die Bücher eignen sich, kritisches Hintergrundwissen zu solchen Vermischungen nachzulesen und sich dann zu fragen: Wie passt denn das zusammen?
Sieht man die Neuerungen in der Psychotherapie in ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen und politischen-gesellschaftlichen Zusammenhang und anerkennt man hier eine Wechselwirkung, so wird man auch unsere Therapieverfahren in ihren Entwicklungen entsprechend ideologiekritisch betrachten müssen. "Keiner kann dem Zeitgeist entfliehen, aber man kann sich kritisch mit ihm auseinandersetzen. Der Blick auf die Geschichte bietet hiefür immer Positionen perspektivischer Distanz." So die Autorin auf der ersten Seite.
Ich habe mit Interesse und Gewinn in diesen Büchern gelesen, zwischen verschiedenen Teilen mäandrierend. Manches war wie ein Geschichtsbuch zu einer fachlichen und zeitgeschichtlichen Entwicklung zu lesen, an der ich selber teilhatte und zu der ich manch neue Hintergrundinformation erhielt, die mir damals nicht verfügbar war.

Peter Schulthess, Präsident der Schweizer Charta für Psychotherapie und der EAGT (European Association for Gestalttherapy)

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