3.3 Die wissenschaftliche Auslotungsperspektive und ihr Strukturbezug
Der Untersuchungsgegenstand fordert über den Wunsch, die verschiedenen Tradierungsperspektiven zusammenzuführen, auch noch zu einer dritten, wissenschaftlich auswertungsorientierten Tiefungs- oder Auslotungsebene auf. Diese soll auch die sozialisierende Wirkung gesellschaftlicher, feld- und rollensozialer, familiärer sowie interpersonaler Einflüsse und damit auch sozio- und psychodynamische Wirkstrukturen mit reflektieren lassen.Hierzu wird eigens ein strukturell-phänomenologischer und strukturanalytischer Forschungsansatz entwickelt (Band 3, Kapitel V.). Mit diesem werden dann die Tradierungselemente im modernen evolutionär-spirituell und psychotechnologisch agierenden Feldspektrum strukturell-phänomenologisch gesichtet sowie strukturanalytisch erörtert und bewertet (Kapitel VI.).
Diese Tiefungsebene lässt den Untersuchungsgegenstand
- als evolutionär-wissenschaftlich und sozialisatorisch aktiven Bereich eines phänomenologisch irrationalistischen Strukturphänomens in der Gesellschaft definieren und
- mit Hilfe der Tradierungsperspektive kurativ-, normativ- und wissenschaftsethisch verantwortungsorientiert ausloten.
Der Grad der Strukturdeutlichkeit der so tradierungsorientiert untersuchbar werdenden Sozialisationsprojekte zur Erzeugung
- einer modernen Evolutionsmissionsidentität mit entsprechender Heil- und Kampfbereitschaft und
- einer »Berufung« zur Verbreitung der Erziehung ins »Neue Bewusstsein«
Zudem erhält die Unterscheidung zwischen einer evolutionären und einer emanzipativen Psychologie- und Psychotherapieentwicklung nochmals eine profunde wissenschaftliche Grundlage. Die Wirkung, welche der Einfluss der evolutionären Psychologie auf die Emanzipationsbewegungen seit der Selbsterfahrungswelle der Humanistischen Psychologie hatte, wird so für die Bewertung der Tradierungsfrage mitberücksichtigbar. Dies zeigt den Untersuchungsgegenstand im Fokus auf die politisch-programmatische und ganzheitlich "positive" Umerziehungs- bzw. Sozialisationsthematik evolutionärer Psychologie und Psychagogik, die strukturanalytisch auf zahlreichen Ebenen klar verortbar wird.
Diese Tiefungsdimension verweist klar auf ein komplexes Tradierungsphänomen im sekundär-sozialisatorischen Mehrgenerationenfeld (Band 2).
Dies fordert dazu auf, sozialisationsspezifische bzw. entwicklungspsychologische und sozialisationshistorische Strukturperspekiven zu bilden und diese in die Strukturanalyse genauso mit einzubeziehen wie die in Band 1 grundbestandsspezifisch erschlossenen Perspektiven auf Tradierungsstrukturen.
Die so erschlossenen Strukturtypologien gewähren einen tieferen Einblick in die sekundär-sozialisatorische Bahnung und Tradierung von evolutionär-programmatisch herangebildeten Wahrnehmungs- und Bewusstseinsbildungsstrukturen, Psychodynamiken, Identifikationsfolien und Identitätsverschiebungen im sozialen und gesellschaftlichen Beziehungs- oder Mehrgenerationenfeld. Sie loten die Frage nach der strukturell-faschistischen Tradierung abschließend aus.
Dies erschließt eine psychologisch zeitgeschichtliche Strukturperspektive im Feldansatz der Studie, die für eine psycho- und soziotherapeutische Introjektforschung nach den Maßgaben einer "grounded theory" (Strauss, Corbin 1996) geeignet ist. Diese gründet die Untersuchung der Tradierung strukturell-faschistischer Bewusstseinsformen und evolutionär-psychagogisch hergestellter, "solar-narzisstischer" Selbst(entwicklungs)prozesse, Psycho- und Soziodynamiken und Ichstruktur- bzw. Ichfunktions(um)bildungen sowie solarer Beziehungs- und Gruppenstrukturbildungen auf ausreichend wissenschaftlich explizierten Grundlagen.
Im strukturell-phänomenologischen Schaubild würde der Untersuchungsgegenstand hierfür als individuell bzw. psychodynamisch und zugleich als kulturspezifisch bzw. gesellschaftsgeschichtlich vermitteltes - d. h. als sowohl familiär, als auch gesellschaftssystemisch und subkulturell feld- und rollenspezifisch vermitteltes - Bewusstseinsbildungs- und Bewusstseinstradierungsphänomen darstellbar. Dieses wäre als jüngstes, evolutionär-psychologisch sozialisierendes Segment eines größeren irrationalistischen Gesellschaftsphänomens erkennbar.
Im historischen "Segmentschnitt" würde die Vielfalt der für seine Beschaffenheit verantwortlichen "Herausbildungs- und Fundamentschichten" sichtbar werden. Solche Schichten bilden etwa Romantik, Ganzheitlichkeitsbewegung und völkisch gestalttheoretische Pädogogik- und Psychologieentwicklung. In der spirituellen Tradierungsperspektive reichten diese Schichten weit über die Jahrhundertwende und deren Glaubens- und Ideologieströmungen zurück bis zur manichäischen Glaubensströmung vor Christi Geburt, wobei Voegelins Studien (1993, 1994) sogar bis zu den sonnenkultischen Theokratien Ägyptens zurückblicken. Die jüngsten Schichten verzweigen sich bis in die aktuellen Subkulturen der esoterischen Neuen Rechten, der Jugendokkultismus- und Neosatanismusszenen und in das ebenfalls meist rechtslastige, esoterische Sektenspektrum hinein (Schweidlenka 1997). Die ältesten, gesellschaftssystemisch relevant werdenden Herausbildungsstrukturen dieses politisch-spirituellen Tradierungsstrangs beginnen in der Zeitphase zwischen 1880 bis 1920. Sie lassen sich als Spektrum unterschiedlicher Theosophielehren und -projekte darstellen, zu dem ab den 20er und 30er Jahren ein Lehren- und Projektspektrum aus dem völkischen, unitarischen und ariosophischen Sekten- und Ordensfundus hinzukam. Dieser Fundus wurde nach dem Krieg schließlich von der Bailey-Theosophie überlagert und über zahllose Projekte der modernen Evolutionsmissionen weitervariiert. Hierzu gehören auch die evolutionär-psychologischen Entwicklungs- und Gruppenprojekte der transpersonalen Psychologie und die sprituellen Wende, die sie in den emanzipativen Therapieverfahren bewirkt hat.
Über diese Auslotungsdimension werden - auf der Grundlage der gesichteten Einflüsse aus den verschiedenen Tradierungsschichten - wiederkehrende Strukturen und Strukturelemente evolutionär-psychagogischer Theorie-, Konzeptions- und Praxeologieentwicklungen erkennbar und benennbar. Da sich diese phänomenologisch strukturorientierte Perspektive auf das Untersuchungsspektrum bereits in den beiden ersten Bänden über den Prozess der Grundbestandserschließung kenntlich machen lässt, kann im dritten Band und in der hier durchgeführten Strukturanalyse zuletzt auf einen strukturell-phänomenologischen Erkenntnisfundus im felddifferenzierenden und konkret geschichtsbezogenen Ansatz zurückgegriffen werden. Über den Einbezug der entwicklungspsychologischen und sozialisationshistorischen Strukturperspektiven wird so zuletzt nicht nur die Tradierungsthese überprüfbar, sondern auch die Grundlagen einer zeitgeschichtlichen Psycho- und Soziotherapieforschung in sekundär-sozialisatorischen Mehrgenerationenfeldern erarbeitet. Denn aus grundbestandsorientierter und psychologischer Strukturperspektive thematisiert der Untersuchungsgegenstand zuletzt die zeitgeschichtliche Strukturtypologie in der psychodynamischen Abwehr- und Bewusstseinsbildung. Diese wird als persönlich und feldspezifisch weitervariierter Teil eines irrationalistischen Verarbeitungsprozesses deutlich, den die Gesellschaft in ihrer spezifischen Entwicklung selbst erzeugt und weiter gestaltet.
Damit geht der Impuls für die Entstehung einer zeitgeschichtlichen Psycho- und Soziotherapieforschung auch stark von jenem gesellschaftssystemischen Aspekt aus, der die hier untersuchte evolutionär-spirituelle und -psychologische Erziehung zum Neuen Menschen als Reaktion auf eine sich immer schneller verändernde Welt und Lebensmatrix deutet und sie ideologiekritisch wahrnimmt.
Hierbei interessiert besonders
- die Attraktivität der evolutionär-psychologischen - stark auf theokratische Führungsmodelle innerhalb geschlossener Welt- und Entwicklungsmodelle ausgerichteten - Erziehungs- und Entwicklungsangebote für moderne Menschen,
- die sich heute durchsetzende Tradierung strukturell-faschistischer Bewältigungsstrategien im Prozess eines zu raschen sozialen und gesellschaftlichen Strukturwandels.
Letzteres ist hinsichtlich des Strukturwandels im Produktionsbereich selbst und anhand der zunehmend strukturellen Auslagerung von Autorität und Verantwortung im Zuge der Globalisierung wissenschaftlich belegt (Sennett 1998).
Damit beleuchtet die gesellschaftssystemische Auslotung des Untersuchungsgegenstandes diesen als sekundär-sozialisatorisch hergestelltes, irrationalistisches Abwehr- und Kompensationsphänomen, das sich als evolutionär-programmatisch agierende Gruppenerscheinung bzw. Projektvielfalt auf dem Psychotherapie- und Weiterbildungsmarkt zeigt.
Diese Gegenstandserschließung auf den genannten drei Tiefungsebenen bestimmt den Darlegungsstil mit seinen hermeneutisch strukturverweisenden Begriffen und begrifflichen Wiederholungen. Sie impliziert aber auch den phänomenologischen Ansatz und die drei Wahrnehmungsschwerpunkte der Studie:
- die glaubens-, ideologie-, wissenschafts- und gesellschaftsgeschichtliche Grundbestandserschließung und die Darlegung des untersuchungsrelevantesten Ausschnitts aus dem irrationalistischen Expansions- bzw. Evolutionsmissionsfundus (Band 1)
- die strukturell-phänomenologische Darlegung des evolutionären Psychologie- und Praxeologiefeldes im Blick auf den amerikanischen und deutschen Herausbildungsprozess der modernen Evolutionsmissionen (Band 2)
- die methoden- und struktur(faktoren)analytische Auswertung des untersuchten Phänomens hinsichtlich der Frage nach der Tradierung einer strukturell-faschistischen Bewusstseins-, Identifikations- und Identitätsformung, für welche der strukturell-phänomenologische und strukturanalytische Ansatz der Studie mit seinem wissenschaftstheoretischen und kenntnisorientierten Forschungsanschluss dargelegt und angewendet wird (Band 3).
- zeitgeschichtlich geordneten,
- antithetisch auslotenden und im
- felddifferenzierenden Vordergrund-Hintergrundbezug.
Die Bezugnahme auf Perls Frühwerk und auf Konzepte der Integrativen Therapie implizierte zudem eine Ausrichtung auf den Wert des diskursiven Elementes und der Förderung von Autonomieentwicklung, Empathie und von Selbst- und Mitverantwortlichkeit und damit auf ein emanzipatives Konzept des "Selbstseinkönnens" (Kierkegaard 2000, Habermas 2001) im psychotherapeutisch geförderten Entwicklungsbezug.
Die genannte Ausrichtung bleibt in der pädagogisch kenntnisvermittelnden und impulsgebenden Intention der Studie stets dem evolutionär-psychologischen Selbstentwicklungsbezug mit seinem Erziehungsanspruch erwachsenen Menschen gegenüber kontinuierlich gegenübergestellt (siehe Band 3, Kapitel V.).
Diese Gegenüberstellung ist im hermeneutisch-pragmatischen Anspruch Flitners an eine Pädagogik intendierende Wissenschaft geankert. Diesem Anspruch Flitners entsprechen auch die Bezugnahmen
- auf die Wissenschaftstradition der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Fromm, Habermas) im ideologiekritischen Ansatz der Studie
- auf Perls' (1944 / 1989) abwehrorientierte Wahrnehmung der Spannung zwischen Bedürfnis- (Lustprinzip) und Forderungserfüllung (Leistungsprinzip) im Einflussfeld gesellschaftlich nachhaltiger Wirkungszusammenhänge und damit im situativen Wirkfeld von Individuum und Gesellschaft; Dies sind Bezugnahmen, die auch für den strukturell-phänomenologischen Ansatz der Studie wichtig sind, zumal sich Perls in der studienrelevanten Schrift auch auf Faschismus und Kapitalismus bezog.
Dieser hinterlegt die Introjekt- und Narzissmusforschung im strukturell-phänomenologischen Grundbestands- und wissenschaftstheoretischen Abgrenzungsbezug und erweitert sie darüber im (politökonomisch sowie zeitgeschichtlich) gesellschaftssystemischen und glaubens- und ideologiegeschichtlichen Hintergrundperspektivenansatz, wofür auch entwicklungs-, tiefenpsychologische und sozialisationshistorische Struktur- und Erkenntnisgewinnungsebenen mit einbezogen werden können.
Die Studie stellt damit nicht nur einen integrativen Beitrag zur Narzissmusforschung in Gestalttherapie, Psychoanalyse und Integrativer Therapie dar, sondern lässt auch die narzisstische Ausgestaltung zahlreicher individualpsychologischer Abwehrformen als gesellschaftssystemisch und evolutionär-ideologisch bzw. zeitgeschichtlich herausgebildete und tradierte Abwehrphänomene erkennen (Band 3, VI. 2.d).